von Rechtsanwalt Martin Arendts, M.B.L.-HSG
Nachdem der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) vor einer Woche bereits das österreichische Glückspielrecht entsprechend der Vorlage als nicht mit Unionrecht vereinbar erklärt hatte (Urteil vom 30. April 2014 in der Rechtssache Pfleger) und Entscheidungen des EuGH insbesondere zur Sach- und Rechtslage in Deutschland anstehen, gibt es nunmehr eine sehr umfassende Vorlage aus Ungarn zu Geldspielautomaten.
Der ungarische Hauptstädtische Gerichtshof (Fővárosi Törvényszék) legt damit dem EuGH gleich 15 Fragen zum ungarischen Glücksspielrecht vor (Rechtssache C-98/14 – Berlington Hungary). Hintergrund sind die restriktiven Gesetzgebungsinitiativen der rechtskonservativen ungarischen Regierung, deren Partei FIDESZ (Bund Junger Demokraten) sich im Parlament auf eine Zweidrittelmehrheit stützen konnte. 2011 wurde zunächst massiv an der Steuerschraube gedreht und die Spielsteuer ohne Übergangszeitraum verfünffacht. 2012 wurde dann der Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen komplett verboten (so dass diese nur noch in den Spielbanken erlaubt sind, deren Zahl allerdings deutlich erhöht wurde).
Sieben Vorlagefragen betreffen die 2011 beschlossene, erdrosselnde Steuererhöhung und deren Vereinbarkeit u.a. mit der unionsrechtlich garantierten Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) und der Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 AEUV) sowie den allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Sinne von Art. 6 Abs. 3 EUV (Grundrechte). In diesem Zusammenhang erkundigt sich das vorlegende ungarische Gericht auch unter Hinweis auf das grundlegende Brasserie du Pêcheur-Urteil nach möglichen unionsrechtlichen Schadensersatzansprüchen.
Weitere acht Fragen betreffen das 2012 beschlossene Totalverbot von Geldspielautomaten in Spielhallen. Auch hier fragt das vorlegende Gericht nach der Vereinbarkeit mit der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) und der Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 AEUV) und wie eine Rechtfertigung durch sog. „zwingende Gründe“ vom nationalen Gericht zu prüfen ist. Zu beiden Fragekomplexen erkundigt sich das ungarische Gericht auch nach einer Notifizierungspflicht entsprechend der Richtlinie 98/34/EG.
Die Antworten des EuGH zu diesen zahlreichen Fragen können auch für die rechtliche Beurteilung in Deutschland von maßgeblicher Bedeutung sein.
Die Vorlagefragen im Einzelnen:
- Zu den im Jahr 2011 vorgenommenen Änderungen des Glücksspielgesetzes, mit denen die Spielsteuer erhöht wurde:
1. Ist eine nicht diskriminierende Regelung eines Mitgliedstaats mit Art. 56 AEUV vereinbar, die die im Zusammenhang mit dem Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen zu entrichtende direkte Steuer, die sogenannte Spielsteuer, durch eine einmalige Maßnahme und ohne Anpassungszeitraum auf das Fünffache des früheren Betrages anhebt und außerdem eine prozentual bemessene Spielsteuer einführt, womit die Tätigkeit von Glücksspielveranstaltern, die Spielhallen betreiben, beschränkt wurde?
2. Ist Art. 34 AEUV dahin auszulegen, dass dessen Anwendungsbereich eine nicht diskriminierende Regelung eines Mitgliedstaats erfasst, die die im Zusammenhang mit dem Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen zu entrichtende direkte Steuer, die sogenannte Spielsteuer, durch eine einmalige Maßnahme und ohne Anpassungszeitraum auf das Fünffache des früheren Betrages anhebt und außerdem eine prozentual bemessene Spielsteuer einführt, womit die Einfuhr von Geldspielautomaten aus dem Gebiet der Europäischen Union nach Ungarn beschränkt wird?
3. Wenn die erste Frage und/oder die zweite Frage bejaht werden: Kann sich ein Mitgliedstaat bei der Anwendung der Art. 36 AEUV, 52 Abs. 1 AEUV und 61 AEUV oder hinsichtlich des Vorliegens zwingender Gründe ausschließlich auf die Regelung der Haushaltslage berufen?
4. Wenn die erste Frage und/oder die zweite Frage bejaht werden: Sind bezüglich der von dem Mitgliedstaat geschaffenen Beschränkung und bezüglich der Gewährung eines Übergangszeitraums zur Anpassung an die Steuervorschrift die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 6 Abs. 3 EUV zu berücksichtigen?
5. Wenn die erste Frage und/oder die zweite Frage bejaht werden: Ist das Urteil Brasserie du Pêcheur (C-46/93 und C-48/93) dahin auszulegen, dass ein Verstoß gegen Art. 34 AEUV und/oder Art. 56 AEUV eine Schadensersatzpflicht eines Mitgliedstaats begründen kann, weil diese Bestimmungen – wegen ihrer unmittelbaren Wirkung – Einzelnen in den Mitgliedstaaten Rechte gewähren?
6. Ist die Richtlinie 98/34/EG1 dahin auszulegen, dass die Steuervorschrift eines Mitgliedstaats, die den Betrag einer direkten Steuer – der im Zusammenhang mit dem Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen zu entrichtenden Spielsteuer – mit einem Mal verfünffacht und außerdem eine prozentual bemessene Steuer einführt, eine „technische De-facto-Vorschrift“ darstellt?
7. Wenn die sechste Frage bejaht wird: Können Einzelne in einem Mitgliedstaat gegenüber diesem einen Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 und/oder gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 98/34/EG als eine Schadensersatzpflicht begründende Unterlassung geltend machen, soll diese Richtlinie also Individualrechte gewährleisten? Welche Gesichtspunkte hat das nationale Gericht bei der Entscheidung abzuwägen, ob der Beklagte einen hinreichend qualifizierten Verstoß begangen hat, und welche Art von Schadensersatzanspruch kann durch diesen Rechtsverstoß begründet werden?
- Zu der im Jahr 2012 vorgenommenen Änderung des Glücksspielgesetzes, mit der der Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen verboten (und ausschließlich in Spielbanken erlaubt) wurde:
1. Ist eine nicht diskriminierende Regelung eines Mitgliedstaats mit Art. 56 AEUV vereinbar, die den Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen mit sofortiger Wirkung verbietet, ohne den Glücksspielveranstaltern einen Übergangs- und Anpassungszeitraum und/oder eine entsprechende Entschädigung zu gewähren, und zugleich ein Monopol für den Betrieb von Geldspielautomaten zugunsten der Spielbanken errichtet?
2. Kann Art. 34 AEUV dahin ausgelegt werden, dass er auch dann einschlägig und anwendbar sein muss, wenn ein Mitgliedstaat eine nicht diskriminierende Rechtsvorschrift erlässt, die zwar den Bezug von Geldspielautomaten aus dem Gebiet der Europäischen Union nicht unmittelbar verbietet, gleichwohl die tatsächliche Nutzung und den Betrieb dieser Automaten im Rahmen von Glücksspielveranstaltungen beschränkt oder verbietet, ohne den die Tätigkeit ausübenden betroffenen Glücksspielveranstaltern hierfür einen Übergangs- und Anpassungszeitraum oder eine Entschädigung zu gewähren?
3. Wenn die erste und zweite Frage bejaht werden: Welche Kriterien hat das Gericht des Mitgliedstaats bei der Anwendung der Art. 36 AEUV, 52 Abs. 1 AEUV und 61 AEUV oder hinsichtlich des Vorliegens zwingender Gründe zu berücksichtigen, wenn es darüber entscheidet, ob die Beschränkung erforderlich, geeignet und verhältnismäßig ist?
4. Wenn die erste Frage und/oder die zweite Frage bejaht werden: Sind im Zusammenhang mit der von den Mitgliedstaaten geschaffenen Beschränkung und der Gewährung eines Anpassungszeitraums die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 6 Abs. 3 EUV zu berücksichtigen? Sind im Zusammenhang mit der im vorliegenden Fall vorgenommenen Beschränkung die Grundrechte – wie das Eigentumsrecht und das Verbot der entschädigungslosen Enteignung –zu berücksichtigen und, wenn ja, in welcher Weise?
5. Wenn die erste Frage und/oder die zweite Frage bejaht werden: Ist das Urteil Brasserie du Pêcheur (C-46/93 und C-48/93) dahin auszulegen, dass ein Verstoß gegen Art. 34 AEUV und/oder Art. 56 AEUV eine Schadensersatzpflicht eines Mitgliedstaats begründen kann, weil diese Bestimmungen – wegen ihrer unmittelbaren Wirkung – Einzelnen in den Mitgliedstaaten Rechte gewähren?
6. Ist die Richtlinie 98/34/EG dahin auszulegen, dass eine Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, die den Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen dadurch verbietet, dass sie deren Betrieb auf Spielbanken beschränkt, eine „sonstige Vorschrift“ darstellt?
7. Wenn die sechste Frage bejaht wird: Können Einzelne in einem Mitgliedstaat gegenüber diesem einen durch den Mitgliedstaat begangenen Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 und/oder gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 98/34/EG als eine Schadensersatzpflicht begründende Unterlassung geltend machen? Welche Gesichtspunkte hat das nationale Gericht bei der Entscheidung abzuwägen, ob der Beklagte einen hinreichend qualifizierten Rechtsverstoß begangen hat, und welche Art von Schadensersatzanspruch kann durch diesen Rechtsverstoß begründet werden?
8. Ist der Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Einzelnen Schadensersatz für Schäden zu zahlen, der durch eine den Mitgliedstaaten zurechenbare Verletzung des Gemeinschaftsrechts entsteht, auch dann anwendbar, wenn der von der erlassenen Regelung betroffene Bereich in die Hoheitsgewalt des Mitgliedstaats fällt? Sind auch in diesem Fall die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze maßgeblich, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben?
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1 Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften (ABl. L 204, S. 37).