Montag, 4. Juli 2016

Urteil des EuGH in der Rechtssache Admiral Casinos (C‑464/15)

EuGH, Urteil vom 30. Juni 2016, Rs. C‑464/15

Tenor:

Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass es bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer restriktiven nationalen Regelung im Bereich der Glücksspiele nicht nur auf die Zielsetzung dieser Regelung im Moment ihres Erlasses ankommt, sondern auch auf die nach ihrem Erlass zu bewertenden Auswirkungen.

Aus den Entscheidungsgründen:


Zur Beantwortung der Frage

25      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass es bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer restriktiven nationalen Regelung im Bereich der Glücksspiele nicht nur auf die Zielsetzung dieser Regelung im Moment ihres Erlasses ankommt, sondern auch auf die nach ihrem Erlass zu bewertenden und empirisch mit Sicherheit festzustellenden Auswirkungen.

26      Zunächst ist klarzustellen, dass die Wendung „empirisch mit Sicherheit festzustellende Auswirkungen“ im Wortlaut der Vorlagefrage – wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt – auf der rechtlichen Bedeutung des Begriffs „tatsächlich“ basiert, der in der deutschen Fassung der Rn. 56 des Urteils vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281), verwendet wird.

27      Hierzu ist festzustellen, dass die Fassungen dieses Begriffs in Rn. 56 des Urteils vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281), sich in vielen Sprachen eher der Bedeutung des Begriffs in der französischen Fassung des Urteils annähern. Dem Begriff „véritablement“ entspricht in der deutschen Sprache nämlich der Begriff „wirklich“ und nicht der Begriff „tatsächlich“ – wobei diese Beurteilung insbesondere durch die spanische („verdaderamente“), die englische („genuinely“), die litauische („tikrai“), die polnische („rzeczywiście“), die portugiesische („verdadeiramente“), die rumänische („cu adevărat“) und die finnische („todellisuudessa“) Fassung des betreffenden Begriffs in dieser Rn. 56 bestätigt wird.

28      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der deutsche Begriff „tatsächlich“ hier bei einer Betrachtung im Kontext der ständigen und gefestigten Rechtsprechung, in deren Rahmen er verwendet wurde, analog zu dem Begriff „wirklich“ zu verstehen ist, da beide Begriffe in diesem Kontext austauschbar erscheinen. So hat der Gerichtshof zwar den Begriff „tatsächlich“ in Rn. 98 seines Urteils vom 8. September 2010, Stoß u. a. (C‑316/07, C‑358/07 bis C‑360/07, C‑409/07 und C‑410/07, EU:C:2010:504), verwendet, gleichwohl wird in dieser Randnummer auf eine zugleich ständige und ältere Rechtsprechung verwiesen, die sich aus Rn. 37 des Urteils vom 21. Oktober 1999, Zenatti (C‑67/98, EU:C:1999:514), und Rn. 53 des Urteils vom 6. März 2007, Placanica u. a. (C‑338/04, C‑359/04 und C‑360/04, EU:C:2007:133), ergibt, die in ihrer deutschen Fassung den Begriff „wirklich“ verwenden. Auch in Rn. 36 des Urteils vom 24. Januar 2013, Stanleybet u. a. (C‑186/11 und C‑209/11, EU:C:2013:33), werden so u. a. in der französischen und in der deutschen Fassung im gleichen Kontext die Begriffe „wirklich“ bzw. „véritablement“ verwendet.

29      Daraus folgt, dass die bloße Verwendung des Begriffs „tatsächlich“ in Rn. 56 des Urteils vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281), nicht dahin ausgelegt werden kann, dass die nationalen Gerichte damit angeleitet werden, „empirisch mit Sicherheit“ das Vorhandensein von bestimmten Auswirkungen der nationalen Regelung nach ihrem Erlass festzustellen.

30      Sodann ist die Frage zu prüfen, ob das vorlegende Gericht bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer restriktiven nationalen Regelung im Bereich der Glücksspiele nicht nur die Zielsetzung dieser Regelung im Moment ihres Erlasses berücksichtigen muss, sondern auch die nach ihrem Erlass zu bewertenden Auswirkungen.

31      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Rn. 52 des Urteils vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281), in Bezug auf die Regelung, die auch im Ausgangsverfahren in Rede steht, entschieden hat, dass das nationale Gericht eine Gesamtwürdigung der Umstände vornehmen muss, unter denen eine restriktive Regelung erlassen worden ist und durchgeführt wird.

32      Der Gerichtshof hat also bereits entschieden, dass sich die Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht auf die Analyse der Sachlage im Moment des Erlasses der betreffenden Regelung beschränken kann, sondern dabei auch der – notwendigerweise nachfolgende – Schritt der Durchführung dieser Regelung zu berücksichtigen ist.

33      Der Gerichtshof hat in Rn. 56 des Urteils vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281), ferner entschieden, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, sofern diese Regelung nicht tatsächlich dem Anliegen entspricht, in kohärenter und systematischer Weise die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern oder die mit Spielen verbundene Kriminalität zu bekämpfen.

34      Aus dem Gebrauch der Wendung „in kohärenter und systematischer Weise“ geht unmittelbar hervor, dass die betreffende Regelung nicht nur im Moment ihres Erlasses, sondern auch danach dem Anliegen entsprechen muss, die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern oder die mit Spielen verbundene Kriminalität zu bekämpfen.

35      Im Übrigen hat der Gerichtshof in den Rn. 65 und 66 des Urteils vom 15. September 2011, Dickinger und Ömer (C‑347/09, EU:C:2011:582), weiter ausgeführt, dass es im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit Sache des vorlegenden Gerichts ist, u. a. die Entwicklung der Geschäftspolitik der autorisierten Unternehmen und den Stand der kriminellen und betrügerischen Aktivitäten im Zusammenhang mit Spielen im entscheidungserheblichen Zeitraum zu prüfen.

36      Es bleibt hiernach festzuhalten, dass der Ansatz des vorlegenden Gerichts im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht statisch sein darf, sondern dynamisch sein muss, so dass es die Entwicklung der Umstände nach dem Erlass der genannten Regelung berücksichtigen muss.

37      Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass es bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer restriktiven nationalen Regelung im Bereich der Glücksspiele nicht nur auf die Zielsetzung dieser Regelung im Moment ihres Erlasses ankommt, sondern auch auf die nach ihrem Erlass zu bewertenden Auswirkungen.

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