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Gastkommentar von Rechtsanwalt Martin Arendts, M.B.L.-HSG
Deutschland verfehlt den Scheinheiligkeitstest (hypocrisy test) deutlich. Die vorgeschobene Begründung für das in Deutschland von den Ländern beanspruchte staatliche Monopol für Sportwetten und Glücksspiele, nämlich die Bekämpfung der Spielsuchtgefahr, hat der EuGH als unzutreffend beurteilt, insbesondere nachdem die Regeln für die Glücksspielform mit der höchsten Spielsuchtgefahr, die Glücksspielautomaten, kürzlich liberalisiert worden sind. Nach den Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs in seinen drei Urteilen vom 8. September 2010 ist das Monopol nicht mit Europarecht vereinbar und damit zumindest in der derzeitigen Form gescheitert, das es keine kohärente und systematische Begrenzung gibt.
Die beschränkenden Regelungen des deutschen Glücksspiel-Staatvertrags dürfen wegen des Vorrangs des Europarechts bis zur Herstellung einer europarechtskonformen Sach- und Rechtslage nicht mehr angewandt werden. Anders als nach deutschem Recht gibt es nach den klaren Ausführungen des Gerichtshofs in der Rechtssache Winner Wetten keine Übergangsregelung und keine vorübergehende Weitergeltung europarechtswidrigen Rechts. Bis auf Weiteres kann somit das binnengrenzüberschreitende Angebot von Sportwetten und Glücksspielen und dessen Bewerbung nicht mehr verboten werden. Auch strafrechtliche Sanktionen sind unzulässig. Für Altfälle (Untersagungsverfügungen gegen Vermittler und in anderen EU-Mitgliedstaaten staatlich zugelassene Anbieter in den letzten Jahren) dürften Schadensersatzansprüche wegen europarechtlicher Staatshaftung bestehen.
Um was geht es?
Entscheiden musste der EuGH Vorlagen mehrerer deutscher Verwaltungsgerichte (VG Köln, VG Stuttgart, VG Gießen, VG Schleswig) in den Rechtssachen:
- Markus Stoß u. a. (verbundene Rechtssachen C-316/07, C-358/07, C-359/07, C-360/07, C-409/07 und C-410/07)
- Carmen Media (Rs. C-46/08) und
- Winner Wetten (Rs. C-409/06).
Die erstere Sache betrifft den Sportwettenvertrieb über Annahmestellen, während der in Gibraltar staatlich zugelassene Buchmacher Carmen Media seine Wettdienstleistungen ausschließlich über das Internet anbieten wollte. Bei der Rechtssache Winner Wetten geht es vor allem um die Aussetzung der Grundfreiheiten während der vom Bundesverfassungsgericht festgesetzten Übergangszeit (März 2006 bis Ende 2007).
Kernaussagen des EuGH
Zwar betont der EuGH, dass die Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum haben und verweist hierbei auf die Besonderheiten bei Glücksspielen („sittliche, religiöse und kulturelle Besonderheiten“). Jeder Mitgliedstaat könne das von ihm angestrebte Schutzniveau bei Glücksspielen selbst bestimmen (d. h. dieses muss nicht bei allen Mitgliedstaaten gleich sein). Auch die Einrichtung eines Monopols für ein Staatsunternehmen ist nach Ansicht des Gerichtshofs grundsätzlich zulässig. Ein Nebeneinander von staatlichem Monopol und Zulassung privater Anbieter für unterschiedliche Glücksspielarten ist nach Auffassung des EuGH ebenfalls grundsätzlich denkbar, wenn dies durch die Umstände sachlich gerechtfertigt ist (wobei der EuGH auf die Vergleichbarkeit abstellt).
Dann verweist der EuGH in seinen Urteilen jedoch auf die Rechtfertigungsprüfung bei der Einschränkung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit. So begrenze das von den deutschen Ländern beanspruchte Monopol die Dienstleistungsfreiheit auch bei Anbietern mit einer sog. Offshore-Lizenz (Rechtssache Carmen Media: Lizenz in Gibraltar). Auch die Niederlassungsfreiheit, die nach den Ausführungen des EuGH auch für Wettannahmestellen gilt (d.h. nicht nur für Niederlassungen im handelsrechtlichen Sinn), wird eingeschränkt.
Forderung nach einer „kohärenten und systematischen Begrenzung“
Eine massive Einschränkungen dieser durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten durch ein Monopol ist jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn der Mitgliedstaat insgesamt eine kohärente Glücksspielpolitik verfolgt und sämtliche Glücksspielformen systematisch regelt. Hierzu muss es nach den Feststellungen des Gerichtshofs einen hinreichenden „normativen Rahmen“ und eine „strikte behördliche Kontrolle“ geben. Unterschiedliche Gesetzgebungszuständigkeiten (Landes- und Bundesrecht; in Deutschland bundesrechtlich geregelte Glücksspielautomaten und Pferdewetten) sind europarechtlich nicht relevant. Neben der gesetzlichen Regelung sind die „konkreten Anwendungsmodalitäten“ zu prüfen. Wenn das Monopol mit der Begrenzung der Ausnutzung der Spielleidenschaft begründet werde, sei auf eine „maßvolle Werbung“ zu achten. Bei der grundsätzlich zulässigen „kontrollierter Expansion“ seien die Werbemaßnahmen auf die erforderliche Lenkungsfunktion zu begrenzen.
Hier scheitert Deutschland kläglich. Die deutsche Regelung begrenzt die Glücksspiele nämlich nicht in kohärenter und systematischer Weise. Zum einen führen nämlich die staatlichen Monopolunternehmen intensive Werbekampagnen durch, um die Gewinne aus den Lotterien zu maximieren. Sie entfernen sich damit von den Zielen, die das Bestehen dieser Monopole rechtfertigen. Zum anderen betreiben oder dulden die deutschen Behörden in Bezug auf Glücksspiele wie Casino- oder Automatenspiele, die nicht dem staatlichen Monopol unterliegen, aber ein deutlich höheres Suchtpotenzial aufweisen als die vom Monopol erfassten Spiele, eine Politik, mit der zur Teilnahme an diesen Spielen ermuntert wird. Das (angebliche) präventive Ziel des Monopols, die Bekämpfung der Spielsucht, wird somit nicht mehr wirksam verfolgt. Damit ist das Monopol gescheitert.
Angesichts der vom Bundesverfassungsgericht herausgestellten Parallelität der Rechtfertigungsprüfung (Orientierung der verfassungsrechtlichen Prüfung an den europarechtlichen Vorgaben) dürfte die derzeitige Situation im Übrigen auch verfassungswidrig sein (so auch das VG Berlin in seiner ständigen Rechtsprechung).
Behörden setzen Vollstreckung von Untersagungsverfügungen aus
Mehrere deutsche Behörden haben seit den EuGH-Urteilen vom 8. September 2010 bereits die Vollstreckung von Untersagungsverfügungen ausgesetzt (z. B. Baden-Württemberg, Bremen und Hamburg), andere wollen trotz der Europarechtswidrigkeit der derzeitigen Rechtslage weiter verbieten (z. B. Münster, Bochum), wieder andere warten auf ministerielle Weisungen. In Rheinland-Pfalz gab es bereits die Aufforderung an Sportwettenvermittler, Erlaubnisanträge zu stellen. Man werde sich auf die einschränkenden Regelung durch § 10 Glückspiel-Staatvertrags nunmehr nicht mehr berufen.
Für eine europarechtskonforme Neuregelung ist „großer Wurf“ erforderlich
Entsprechend des Ausführungen des EuGH müsste zunächst der gesamte, bislang historische gewachsene und zersplittert durch bundes- und landesrechtliche Vorschriften geregelte Glücksspielbereich in einem „großen Wurf“ kohärent und systematisch geregelt werden. Insbesondere hinsichtlich der Glücksspielautomaten besteht in Deutschland erheblicher Regelungsbedarf. Eine Verstaatlichung von Gauselmann & Co. ist aber politisch unwahrscheinlich und – wenn überhaupt – nur mit einer angemessenen Übergangsfrist umsetzbar. Im Übrigen müsste sich auch das als problematisch beurteilte Verhalten der Landeslotteriegesellschaften und deren Überwachung grundlegend ändern.
Politische Diskussion hat erst begonnen
Trotz des derzeitigen rechtlichen Umbruchsituation und obwohl die Evaluierung des Glücksspiels-Staatvertrags bereits für 2010 angesetzt war, ist die politische Diskussion erst jetzt in Gang gekommen. Während Schleswig-Holstein und Niedersachsen sich bereits vor den EuGH-Urteilen für eine Konzessionssystem für Sportwetten ausgesprochen hatten (bei Aufrechterhaltung des für die Länderhaushalte wesentlichen Lottomonopols), gab es nunmehr positive Signale aus Bayern und von der FDP Hessen. Eine einheitliche Linie der Länder ist aber nicht erkennbar. Insbesondere Ministerpräsident Beck sprach sich für eine Beibehaltung des Monopols aus, allerdings ohne einen rechtlich umsetzbaren Weg zu nennen. Auch auf Bundesebene (Neuregelung der bundesgesetzlich geregelten Glücksspielautomaten) gab es bislang keine öffentliche Diskussion.
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