In dem aus Deutschland
stammenden Sportwetten-Vorlageverfahren Ince
(Rechtssache C-336/14) hat die vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um
eine Stellungnahme gebetene Europäische Kommission die Sach- und Rechtslage in
Deutschland als europarechtswidrig beurteilt. Die binnengrenzüberschreitende
Vermittlung von Sportwetten könne daher nicht bestraft werden. Das in
Deutschland derzeit laufende Sportwetten-Konzessionsverfahren erfülle die aus
Europarecht folgenden Transparenzerfordernisse nicht.
Das
Amtsgericht Sonthofen hatte in zwei verbundenen Strafverfahren dem EuGH mehrere
Fragen zur Vereinbarkeit der glücksspielrechtlichen Regelungen und der
strafrechtlichen Sanktionierung mit Europarecht vorgelegt (konkretisierter
Vorlagebeschluss vom 6. März 2014, Az. 1 Ds 400 Js 17155/11, siehe http://wettrecht.blogspot.de/2014/09/neue-sportwetten-vorlage-aus.html).
„Das Vorlagegericht stellt mehrere Fragen, die um ein zentrales Thema kreisen: Ist die Verhängung einer Strafe wegen der Vermittlung von Sportwetten ohne Erlaubnis unionsrechtswidrig, wenn der Rechtsrahmen, der die Erlangung einer solchen Erlaubnis wegen eines staatlichen Sportwettenmonopols unmöglich macht, unionsrechtswidrig ist oder wenn die Anwendung eines rechtskonformen Rechtsrahmens unionsrechtswidrig ist.“
Trotz fehlender
Unionrechtsbürgerschaft der (türkischen) Sportwettenvermittlerin hält die Kommission
die Dienstleistungsfreiheit für einschlägig, wobei sie auf die Rechtsprechung
des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayrVGH) verweist (Rn. 18 f):
„Der BayrVGH stellt
klar, dass im Dienstleistungsverhältnis zwischen ausländischen Wettanbietern
und inländischen Wettkunden der Tätigkeit des Vermittlers keine selbständige
Bedeutung zukommt und somit auch nicht eine selbständige Beschränkung der
Dienstleistungsfreiheit vorliegt, dass allerdings das Verbot
Wettdienstleistungen durch Vermittlertätigkeit zu erleichtern, eine Beschränkung
des Rechts des Wettanbieters darstellt.
Die Kommission hält vorweg fest, dass
sie dieser Ansicht des Vorlagegerichts und des BayrVGH in dieser Vorfrage
ausdrücklich zustimmt.“
Für
den Zeitraum des unionsrechtswidrigen Sportwettenmonopols (vor dem 1. Juli
2012) kommt eine Strafbarkeit nach Auffassung der Kommission entsprechend der maßgeblichen
Rechtsprechung des EuGH nicht in Betracht (Rn. 22):
„Nach Ansicht der
Kommission ist jedoch unzulässig, in einem unionsrechtswidrigen staatlichen
Monopolsystem, das für bestimmte, private Dienstleistungen gar keine Erlaubnis
vorsieht, eine Strafe für das Fehlen einer solchen Erlaubnis zu verhängen. In
den Fällen Stoß, Rn 115, sowie Placanica, Rn 69, hat
der Gerichtshof festgestellt, dass ein Mitgliedstaat keine strafrechtlichen
Sanktionen wegen einer nicht erfüllten Verwaltungsformalität verhängen darf,
wenn er die Erfüllung dieser Formalität unter Verstoß gegen das Unionsrecht
abgelehnt oder vereitelt hat. Im vorliegenden Fall wurde die Erlangung einer
Erlaubnis zweifellos durch das staatliche Monopolsystem unmöglich gemacht,
strafrechtliche Sanktionen daher unzulässig.“
Aus dem ausdrücklich die „Strafverfolgungsbehörden,
Gerichte und Gesetzgeber“ bindenden Anwendungsvorrang des Unionsrechts ergibt
sich für die Kommission folgende Antwort auf die erste Vorlagefrage bezüglich
der durch Art. 56 AEUV garantierten Dienstleistungsfreiheit (Rn. 24):
„Artikel 56 AEUV ist dahin auszulegen,
dass den Strafverfolgungsbehörden untersagt ist, die ohne deutsche Erlaubnis
erfolgte Vermittlung von Sportwetten an im EU-Ausland lizenzierte
Wettveranstalter zu sanktionieren, wenn die Vermittlung auch eine deutsche
Erlaubnis des Veranstalters voraussetzt, den nationalen Stellen aber durch eine
unionsrechtswidrige Gesetzeslage ("Sportwettenmonopol") verboten ist,
nichtstaatlichen Wettveranstaltern eine Erlaubnis zu erteilen.“
Daran ändert sich nach Überzeugung der
Kommission auch nichts, wenn in dem Mitgliedstaat ein Erlaubnisprüfverfahren (die
von der deutschen Bundesregierung vorgetragene angebliche „bayerische Öffnung“
trotz weiterer Verteidigung der Monopolregelung) eingeführt worden sein sollte,
eine Erlaubniserteilung aber tatsächlich ausgeschlossen war (Rn. 29):
„Art 56 untersagt auch dann die
strafrechtliche Verfolgung von unerlaubter Vermittlung von Sportwetten, wenn
zwar Zugang zu einem Erlaubnisprüfverfahren gewählt wird, der negative Ausgang
aber wegen der rechtlich und faktischen Beschränkung auf staatliche
Einrichtungen von vorneherein feststeht.“
Auch mit dem sog. Erlaubnisvorhalt kann
eine Strafbarkeit nicht begründet werden. Die Kommission analysiert insoweit
das Stanleybet-Urteil des EuGH (Rs. C-186/11) und hält – entgegen dem deutschen
Bundesverwaltungsgericht – fest (Rn. 36 f):
„Aus den Möglichkeiten, die diese
Rechtsprechung den Mitgliedstaaten bietet, kann nach Ansicht der Kommission
nicht abgeleitet werden, dass eine dauerhafte Untersagung der Erteilung einer
Erlaubnis an nichtstaatliche Einrichtungen bei gleichzeitiger Bestrafung
unerlaubten Glücksspiels gerechtfertigt ist, ohne dass die mit Unionsrecht
unvereinbare Rechtslage unionsrechtskonform adaptiert wird.
Die dauerhafte Untersagung unerlaubter
Vermittlung und Veranstaltung von Sportwetten, auf der Grundlage
unionsrechtswidriger Gesetze, kann nicht durch Art 56 AEUV oder durch die
Rechtsprechung des Gerichtshofs gerechtfertigt werden.“
Nach
Auslaufen des alten Glücksspielsaatvertrags 2008 zum Jahresende 2011 galten dessen
Regelungen in Deutschland als Landesrecht fort, allerdings ohne dass das
bayerische Ausführungsgesetz entsprechend der Richtlinie 98/341 EG notifiziert
worden wäre. Eine Strafbarkeit aufgrund eines nicht notifizierten Gesetzes ist
unionsrechtlich jedoch unzulässig, wie die Kommission festhält (Rn. 50):
„Die Richtlinie 98/341
EG ist dahin auszulegen, dass sie der Sanktionierung der ohne deutsche
Erlaubnis erfolgten Vermittlung von Sportwetten über einen Wettautomaten an
einen im EU-Ausland lizenzierten Wettveranstalter entgegensteht, wenn die
staatlichen Eingriffe auf einem nicht an die EU-Kommission notifizierten Gesetz
eines einzelnen Bundeslandes beruhen, das den ausgelaufenen Staatsvertrag zum
Glücksspielwesen ("GlüStV") zum Inhalt hat.“
Auch der zum 1. Juli 2012 in Kraft
getretene Glücksspieländerungsstaatsvertrag (GlüÄndStV) 2012 hält einer
unionsrechtlichen Prüfung nicht stand. Die Kommission gibt zunächst dem
Vorlagegericht auf, zu prüfen, ob die unangemessene Dauer der nunmehr
gesetzlich in einer „Experimentierklausel“ vorgesehenen Konzessionierung (ohne
dass jedoch bislang tatsächlich Konzessionen erteilt worden wären) zu einem
faktischen Fortbestand des rechtswidrigen Monopols führt (Rn. 55 f):
„Es obliegt grundsätzlich dem
Vorlagegericht festzustellen, ob das Konzessionsverfahrens bereits
unverhältnismäßig lange dauert und somit einem praktischen Verbot der
Durchführung und Vermittlung von Sportwetten gleichkommt. Wenn die
Bundesrepublik die Bestimmungen über ein Konzessionssystem im GlüÄndStV 2012
nicht auf eine Art umsetzen kann, dass innerhalb eines vernünftigen Zeitraums
auch tatsächlich Konzessionen vergeben werden, kann das bedeuten, dass es in
der Praxis nach wie vor unmöglich ist, eine Erlaubnis für die Vermittlung von
Sportwetten zu erhalten und dass somit weiterhin ein ständiges Verbot zur
Erbringung dieser Dienstleistung besteht.
Dies wäre bereits im Hinblick auf das
Urteil C-186/11 Stanleybet unionsrechtswidrig
und würde, wie bereits zur Frage 1a ausgeführt, eine Anwendung von Strafnonnen
verbieten. Ein Mitgliedstaat darf, wie gesagt, keine strafrechtlichen Sanktionen
wegen einer nicht erfüllten Verwaltungsformalität verhängen, wenn er die
Erfüllung dieser Formalität unter Verstoß gegen das Unionsrecht abgelehnt oder
vereitelt hat.“
Kritisch beurteilt die Kommission auch
die Verbindungen zwischen der Vergabestelle und der seit Jahrzehnten die Landeslotteriegesellschaften
vertretenden Rechtsanwaltskanzlei (Rn. 64):
„Die vom Vorlagegericht beschriebenen
Verbindungen zwischen der Vergabestelle und bestimmten Bietern durch eine
gemeinsame Rechtsanwaltskanzlei könnte auf einen Interessenkonflikt hinweisen
sowie auf eine Verfälschung des Wettbewerbs. Es liegt daher am Vorlagegericht
festzustellen, ob im Konzessionsverfahren geeignete Maßnahmen gegen die
drohende Wettbewerbsverzerrung getroffen wurden.“
Noch gravierender sind allerdings die Fehler
bei der Durchführung der Sportwetten-Konzessionierung. Nach Auffassung der
Kommission verstößt die deutsche Konzessionsausschreibung gegen das
Transparenzgebot. Aufgrund einer Analyse der einschlägigen EuGH-Rechtsprechung
(Teleaustria- und Engelmann-Urteile) folgert die Kommission (Rn. 69):
„Aus all dem kann geschlossen werden,
dass bereits nach heutigem Standard Minimalanforderungen vorweg publiziert
werden müssen, um Interessenten eine begründete Entscheidung zu ermöglichen, ob
sie am Konzessionsverfahren teilnehmen möchten. Aus Rn 168 und 169 der
Vorlageantrags geht hervor, dass im vorliegenden Fall überhaupt keine
Einzelheiten zu den Konzessionsanforderungen vorweg publiziert worden waren,
was auch unter der aktuellen Rechtslage den Transparenzanforderungen nicht
genügt.“
Die erst später nach Ablauf der Bewerbungsfrist erfolgte Mitteilung von Details nur an die Bewerber, die sich für eine „zweite Stufe“ des Konzessionsverfahrens qualifiziert hatten, ist unzureichend.
Kommentar von Rechtsanwalt Martin
Arendts:
Eine
Strafbarkeit der binnengrenzüberschreitenden Vermittlung von Sportwetten kommt nach
den überzeugenden Ausführungen der Europäischen Kommission bis heute nicht in
Betracht, weder nach der alten Rechtslage in der ersten Jahreshälfte 2012 noch nach dem derzeit in Deutschland geltenden
Glücksspieländerungsstaatsvertrag (dem nunmehr bereits dritten Staatsvertrag
nach dem 2004 in Kraft getretenen Lotteriestaatsvertrag). Auch ein
verwaltungsrechtliches Verbot ist europarechtlich nicht haltbar, solange die
Sach- und Rechtslage in Deutschland nicht endlich mit Unionsrecht in Einklang gebracht
wird.
Da
die Europäische Kommission als „Hüterin der Verträge“ die die derzeitige Sach-
und Rechtslage als mit Unionsrecht nicht vereinbar beurteilt und eine
strafrechtliche Sanktionierung aus mehreren Gründen für unzulässig hält, wäre
selbst dann, wenn der EuGH diesen Ausführungen nicht in allen Punkten folgen
sollte, von einem unvermeidbaren Verbotsirrtum auszugeben (so dass eine
Bestrafung nicht in Betracht kommt).
Für
das bereits seit mehr als 2 ½ Jahre dauernde Sportwetten-Konzessionsverfahren
könnten die Feststellungen der Kommission das Ende bedeuten. Aufgrund der von
der Kommission festgestellten fehlenden Transparenz und der gravierenden Verfahrensfehler
ist das Verfahren unheilbar rechtswidrig. Es müsste eine Neuausschreibung
erfolgen, die den strengen europarechtlichen Transparenzanforderungen genügt.
Angesichts der geringen Restlaufzeit der Ende Juni 2019 auslaufenden „Experimentierklausel“
macht dies ohne eine Gesetzesänderung aber wenig Sinn.
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Anmerkung:
Rechtsanwalt Martin Arendts vertritt in
den Strafverfahren und vor dem EuGH Frau Ince.
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