Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wird sein bereits seit längerer Zeit erwartetes Urteil in den verbundenen Rechtssachen Placanica u. a. (Rs. C-338/04, C-359/04 und C-360/04) am Dienstag, den 6. März 2007, verkünden. Von dieser Entscheidung („Placanica-Urteil“) wird eine weitere Klärung der Rechtslage beim binnengrenzüberschreitenden Angebot von Sportwetten erwartet.
Im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Placanica-Urteil und dem im November 2003 ergangenen, die gleiche Problematik betreffenden Gambelli-Urteil stellen sich viele Fragen: Warum muss sich der EuGH nach Gambelli-Urteil erneut mit Sportwetten beschäftigen? Was hat Europarecht überhaupt mit Sportwetten zu tun? Welche Auswirkungen könnte das Placanica-Urteil haben? Betrifft das Urteil auch staatliche Monopole für Sportwetten?
Die wesentlichen 10 Fragen und Antworten lauten wie folgt:
(1) Was hat der Europäische Gerichthof überhaupt mit Sportwetten und Glücksspielen zu tun?
Bereits nach der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs war das Angebot von Sportwetten und Glücksspielen als wirtschaftliche Betätigung im Sinne des EG-Vertrags (und nicht als hoheitliche Tätigkeit) beurteilt worden (grundlegend bereits die erste Entscheidung des EuGH zu Glücksspielen, das zu Lotterielosen ergangene Schindler-Urteil vom 24. März 1994). Damit können sich Wettanbieter und Vermittler auf die unmittelbar anwendbaren, durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten berufen.
(2) Welche Bedeutung haben die Grundfreiheiten des EG-Vertrags für das grenzüberschreitende Angebot von Sportwetten?
Durch eine strafrechtliche Sanktionierung des grenzüberschreitenden Angebots von Sportwetten ist neben der bei Annahmestellen einschlägigen Niederlassungsfreiheit vor allem die Dienstleistungsfreiheit betroffen. Beschränkungen dieser Freiheit müssen gerechtfertigt sein, wofür der Mitgliedstaat darlegungs- und beweispflichtig ist. Nach dem Gambelli-Urteil müssen Beschränkungen „aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Auf jeden Fall müssen sie in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden.“ (Gambelli-Urteil, Rn. 65)
Auch für Kunden gilt nach der Rechtsprechung des EuGH die sog. passive Dienstleistungsfreiheit. (Potentielle) Kunden sind berechtigt, Dienstleistungen von Buchmachern mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat ohne Beschränkungen in Anspruch zu nehmen (vgl. Gambelli-Urteil, Rn. 55).
(3) Welches Ermessen haben Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit bei Sportwetten?
Nach Auffassung des EuGH können „sittliche, religiöse und kulturelle Besonderheiten“ sowie die „sittlich und finanziell schädlichen Folgen“ von Wetten berücksichtigt werden (Gambelli-Urteil, Rn. 63). Insoweit haben die Mitgliedstaaten ein „ausreichendes Ermessen“. Dies heißt jedoch nicht, dass die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit nach freiem Ermessen eingeschränkt werden dürfte. Vielmehr müssen auf jeden Fall die erwähnten strengen europarechtlichen Voraussetzungen erfüllt sein, d. h. die beschränkenden Regelungen müssen insbesondere nichtdiskriminierend, geeignet und verhältnismäßig sein.
(4) Können weniger Steuereinnahmen eine Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen?
Aus europarechtlicher Sicht: ein klares Nein. Der Europäische Gerichtshof drückt dies so aus: Steuereinnahmen dürfen nur eine „erfreuliche Nebenfolge“, nicht aber der eigentliche Grund für eine gegenüber privaten Anbietern restriktive Politik sein.
(5) Wann ist eine Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit nach Ansicht des EuGH „geeignet“?
Nur dann, wenn eine nachvollziehbare „kohärente“ Politik verfolgt wird. Der Europäische Gerichtshof nimmt dabei insbesondere Bezug auf die Werbung für staatliche Glücksspielangebote:
„Soweit nun aber die Behörden eines Mitgliedstaats die Verbraucher dazu anreizen und ermuntern, an Lotterien, Glücksspielen oder Wetten teilzunehmen, damit der Staatskasse daraus Einnahmen zufließen, können sich die Behörden dieses Staates nicht (…) auf die öffentliche Sozialordnung berufen, um Maßnahmen (…) zu rechtfertigen.“ (Rn. 69)
(6) Warum gab es nach dem Gambelli-Urteil eine erneute Vorlage an den EuGH?
In dieser Rechtssache befasste sich der Europäische Gerichtshof zum ersten Mal mit einer die Dienstleistungsfreiheit für Sportwetten einschränkenden Strafrechtsvorschrift. Zu der gerade bei der Strafandrohung als schärfste staatliche Maßnahme erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung hat der EuGH den nationalen Gerichten detaillierte Kriterien vorgegeben. Dieser Prüfungsmaßstab („Gambelli-Kriterien“) ist für die nationalen Gerichte verbindlich. Der italienische Kassationsgerichtshofs (Corte suprema di cassazione) hatte dagegen trotz des kurz zuvor ergangenen Gambelli-Urteils in seiner Entscheidung Nr. 23271/04 festgestellt, dass es nicht Aufgabe des Richters sei, über die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit von Strafandrohungen zu entscheiden. Dies hielten zwei italienische Strafgerichte für unzutreffend (u. a. in einem Strafverfahren gegen den Sportwettenvermittler Placanica) und legen dem EuGH erneut Fragen zur Klärung der Rechtslage vor.
(7) Warum hat der Europäische Gerichtshof die italienische Strafrechtsvorschrift für die Vermittlung von Sportwetten nicht für rechtwidrig erklärt?
Der Gerichtshof konnte im Gambelli-Verfahren gar nicht die italienische Rechtsvorschrift unmittelbar für rechtswidrig erklären. Das Urteil erging im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, in dem das mit der Strafsache befasste italienische Gericht europarechtliche, für die Entscheidung wesentliche Vorfragen geklärt haben wollte. Der Gerichtshof legt in diesem Verfahren die gemeinschaftsrechtlichen Fragen aus, nicht die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften.
Der Europäische Gerichthof machte allerdings sehr klar, zu welcher Entscheidung das vorlegende italienische Gericht kommen sollte. Der Gerichthof machte hinter der Verhältnismäßigkeit der Strafandrohung ein mehr als nur deutliches Fragezeichen. Die oben geschilderte Nichtbeachtung durch den italienischen Kassationsgerichtshof wird der EuGH wohl so nicht hinnehmen.
(8) Können die deutschen Bundesländer per Staatsvertrag vereinbaren, dass nur deutsche (staatliche) Anbieter zugelassen werden?
Aus europarechtlicher Sicht: ein klares Nein. Diskriminierende, d.h. Anbieter aus anderen Mitgliedstaaten benachteiligende Regelungen sind niemals gerechtfertigt. Beschränkungen müssen unterschiedslos anwendbar sein, d. h. in gleicher Weise und mit den gleichen Kriterien für in Deutschland ansässige Wirtschaftsteilnehmer wie für solche aus anderen Mitgliedstaaten gelten (Gambelli-Urteil, Rn. 70). Im Übrigen verstößt bereits die derzeitige Situation in Deutschland (Marktaufteilung und Marktabschottung durch den Lotto- und Totoblock als Kartell) gegen die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrages.
(9) Bedeutet Dienstleistungsfreiheit rechtlich gesehen „Wilder Westen“?
Nein, natürlich nicht. Der Europäische Gerichtshof betonte in dem Gambelli-Urteil mehrfach, dass insbesondere Regelungen zur Betrugsbekämpfung zulässig sind. Diese Beschränkungen dürfen allerdings nicht über das Erforderliche hinausgehen. Dabei ist zu berücksichtigen, ob ein Buchmacher in seinem Heimatstaat Kontroll- und Sanktionsregelungen unterliegt und dort rechtmäßig gegründet ist (Gambelli-Urteil, Rn. 73). Insbesondere hinsichtlich der ausreichend überwachten und strengen Zulassungsvoraussetzungen unterliegenden österreichischen, maltesischen und englischen Buchmacher ist eine Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit alleine mit dem Argument der Betrugsbekämpfung nicht zulässig. Auch der Generalanwalt hält in seinen Schlussanträgen zum Placanica-Fall eine Kontrolle durch den Heimatstaat für ausreichend.
(10) Bringt das Placanica-Urteil das Ende des Staatsmonopols?
Das Placanica-Urteil betrifft nicht unmittelbar die Frage der Zulässigkeit von staatlichen Monopolen bei Sportwetten und Glücksspielen (hierzu sind Verfahren beim EFTA-Gerichtshof anhängig). Der Generalanwalt des EuGH Colomer führt jedoch in seinen Schlussanträgen, einem umfangreiches Rechtsgutachten, aus, dass eine Überwachung im Heimatstaat des Buchmachers ausreichend sei. Der italienische Ansatz, sich auf den Territorialcharakter der (in diesem Fall britischen) Zulassung zu berufen, verstoße gegen die Gemeinschaftstreue. Aus dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung schloss der Generalanwalt: „Wenn danach ein Veranstalter aus einem anderen Mitgliedstaat die dort geltenden gesetzlichen Anforderungen erfüllt, müssen die Behörden des Staates, in dem die Dienstleistung erbracht wird, davon ausgehen, dass dies eine ausreichende Garantie für seine Integrität ist.“ Im Übrigen beurteilte er die italienischen Bestimmungen als diskriminierend, so dass sie bereits alleine aus diesem Grund nicht anwendbar seien. Darüber hinaus seien die Bestimmungen auch nicht verhältnismäßig.
Falls der EuGH dieser Argumentation folgen sollte, bedeutete dies faktisch das Ende staatlicher Monopole, weil das grenzüberschreitende Angebot von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat weder strafrechtlich noch verwaltungsrechtlich unterbunden werden dürfte.
aus: Sportwettenrecht aktuell Nr. 65
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