Montag, 5. März 2007

Hintergründe zum Placanica-Urteil des Europäischen Gerichtshofs

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wird am Dienstag, den 6. März 2007, sein seit längerer Zeit erwartetes Placanica-Urteil verkünden (verbundene Rs. C-338/04, C-359/04 und C-360/04). Es ist zu hoffen, dass er damit die Reichweite der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit bei dem binnengrenzüberschreitenden Angebot von Sportwetten weiter klären wird. Strittig ist derzeit insbesondere, unter welchen Voraussetzungen diese Grundfreiheiten von den Mitgliedstaaten gerechtfertigt eingeschränkt werden können.

Die hohe politische Bedeutung ergibt sich aus der langen Bedenkzeit seit der mündlichen Verhandlung im März 2006 und aus dem Umstand, dass die Große Kammer des EuGH diese Sache entscheidet. Die Bedeutung und möglichen Auswirkungen dieser Entscheidung kann man besser verstehen, wenn man die prozessuale Situation und die Hintergründe richtig einordnen kann.

1. Prozessuale Situation: Vorlageverfahren

Prozessualer Hintergrund sind drei Strafverfahren gegen italienische Sportwettenvermittler, darunter ein Verfahren gegen Herrn Massimiliano Placanica, nach dem die Rechtssache – entsprechend der Übung beim EuGH – benannt ist. Diese drei Vermittler hatten Verträge über Sportwetten an einen in dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland staatlich zugelassenen Buchmacher vermittelt und waren deswegen angeklagt worden.

Die damit befassten italienischen Gerichte hatten Bedenken, ob die strafrechtliche Sanktionierung mit Europracht vereinbar ist. Sie legten deshalb Fragen zur Klärung der europarechtlichen Lage dem EuGH vor, der diese drei Verfahren zusammenfasste. Weitere, erst später eingegangene ähnliche Vorlageverfahren aus Italien sind noch beim EuGH anhängig (Rs. C-395/05, C-397/05, C-446/05 und C-191/06).

Das Vorlageverfahren nach Art. 234 EG-Vertrag dient vor allem der Wahrung der Rechteinheit. Die Vorschriften des EG-Vertrags und das Sekundärrecht (Verordnungen, Richtlinien etc.) soll europaweit einheitlich angewandt werden. Soweit in dem nationalen Gerichtsverfahren kein Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts mehr möglich ist, ist das Gericht daher zur Vorlage an den EuGH verpflichtet. Darüber hinaus kann jedes Gericht (auch ein Amtsgericht) eine Frage vorlegt, wenn es dies für seine Entscheidung für erforderlich hält.

In der Praxis hat das Vorlageverfahren auch erhebliche Bedeutung für den Individualrechtsschutz der Bürger und Unternehmen, die sich auf eine europarechtlich garantierte Rechtsposition berufen. Bislang gibt es nämlich keinen Rechtsbehelf, einen Mitgliedstaat unmittelbar vor dem EuGH zur Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zu zwingen. Nur die Europäische Kommission kann als „Hüterin der Verträge“ einen Mitgliedstaat in einem langwierigen Vertragsverletzungsverfahren zur Einhaltung des europäischen Gemeinschaftsrechts verpflichten und vor den EuGH bringen.

Bricht eine Behörde oder ein Gericht Europarecht, besteht ein europarechtlicher Schadenersatzanspruch, der allerdings erst hinterher mühsam durchgesetzt werden muss. Beispiel für einen derartigen offenen Bruch des Europarechts ist etwa das Vorgehen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen, das in zahlreichen Entscheidungen zur binnengrenzüberschreitenden Vermittlung von Sportwetten Europarecht ausdrücklich suspendiert hat (Pilotfall: Beschluss vom 28. Juni 2006, Az. 4 B 961/06).

2. Die zu entscheidenden Vorlagefragen

in seinem im November 2003 ergangenen Gambelli-Urteil hatte der EuGH zu der gerade bei der Strafandrohung als schärfste staatliche Maßnahme erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung den nationalen Gerichten detaillierte Kriterien vorgegeben. Dieser Prüfungsmaßstab („Gambelli-Kriterien“) ist für die nationalen Behörden und Gerichte verbindlich. Der italienische Kassationsgerichtshofs (Corte suprema di cassazione) hatte dagegen trotz des kurz zuvor ergangenen Gambelli-Urteils in seiner Entscheidung Nr. 23271/04 festgestellt, dass es nicht Aufgabe des Richters sei, über die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit von Strafandrohungen zu entscheiden. Dies hielten zwei italienische Strafgerichte für unzutreffend.

a) Vorlagefragen in dem Verfahren Placanica

Das Tribunale Larino hat das Verfahren gegen Herrn Placanica ausgesetzt, da es Zweifel hatte, ob das Konzessionssystem damit gerechtfertigt werden kann, dass Glücksspiele dadurch in kontrollierbare Bahnen gelenkt werden. In dem Beschluss vom 8. Juli 2004, der zu der Rechtssache C 338/04 geführt hat, stellt es dem Gerichtshof folgende Frage:

Wie bewertet der Gerichtshof die Vereinbarkeit von Artikel 4 Absatz 4bis des Gesetzes Nr. 401/89 mit den in den Artikeln 43 ff. EG und 49 EG zum Ausdruck gebrachten Grundsätzen in Bezug auf die Niederlassungsfreiheit und den freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr, auch im Licht des Unterschieds bei der Auslegung zwischen den Entscheidungen des Gerichtshofes (insbesondere dem Urteil Gambelli) und der Entscheidung Nr. 23271/04 der Corte suprema di cassazione, Vereinigte Kammern? Insbesondere wird um Klärung gebeten, ob die in der Anklageschrift angeführte Sanktionsregelung, die Massimiliano Placanica rügt, im italienischen Staat anwendbar ist.

b) Vorlagefragen Christian Palazzese (Rs. C-359/04) und Angelo Sorricchio (Rs. C-360/04)

Das Tribunale Teramo hat durch zwei Beschlüsse vom 23. Juli 2004 mit ähnlichem Inhalt ebenfalls die Verfahren ausgesetzt und unter dem Gesichtspunkt der Voraussetzungen für die Teilnahme an den Ausschreibungen für die Konzessionen folgende Frage vorgelegt:

Können die Artikel 43 Absatz 1 und 49 Absatz 1 EG dahin ausgelegt werden, dass die Mitgliedstaaten zeitlich begrenzt (für eine Zeit von 6 bis 12 Jahren) von den Grundsätzen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs in der Europäischen Union durch eine Regelung, wie sie im Folgenden wiedergegeben ist, abweichen können, ohne die erwähnten Gemeinschaftsprinzipien zu verletzen:

1. Einigen Personen werden Konzessionen für bestimmte Dienstleistungstätigkeiten, die für 6 bis 12 Jahre gültig sind, auf der Grundlage einer Regelung erteilt, die dazu geführt hat, dass von der Ausschreibung für ihre Erteilung bestimmte Gruppen von (nicht italienischen) Wettbewerbern ausgeschlossen waren;

2. nachdem später zur Kenntnis genommen worden war, dass diese Regelung nicht mit den Grundsätzen der Artikel 43 und 49 des Vertrages vereinbar war, wurde sie dahin geändert, dass künftig die Teilnahme auch den Personen gestattet wurde, die davon ausgeschlossen worden waren;

3. die Konzessionen, die auf der Grundlage der vorherigen Regelung erteilt worden waren, die, wie bereits ausgeführt, für gegen die Grundsätze der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs verstoßend befunden wurde, wurden nicht zurückgenommen, und es wurde keine neue Ausschreibung nach der neuen Regelung, die jetzt diese Grundsätze einhält, veranstaltet;

4. stattdessen werden weiterhin Personen strafrechtlich verfolgt, die in Verbindung mit Personen tätig sind, die für diese Tätigkeit im Herkunftsmitgliedstaat zugelassen worden sind, doch von der Ausschreibung gerade wegen der Ausschlussregelungen nach den vorher geltenden Bestimmungen, die später aufgehoben wurden, ausgeschlossen waren?


3. Schlussanträge des Generalanwalts Colomer

Der zuständige Generalanwalt des EuGH Colomer legte am 16. Mai 2006 sehr engagierte Schlussanträge vor, in denen er eine Klärung der Rechtsfragen forderte. Seine Anträge beginnen mit der Aufforderung:

„,Rien ne va plus´. Der Gerichtshof kann sich einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Grundfreiheiten des EG-Vertrags im Glücksspielsektor nicht länger entziehen."

Der Generalanwalt verwarf klar den italienischen Ansatz, sich auf den Territorialcharakter der (in diesem Fall britischen) Zulassung zu berufen. Dies verstoße gegen die Gemeinschaftstreue. Aus dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung schloss der Generalanwalt:

„Wenn danach ein Veranstalter aus einem anderen Mitgliedstaat die dort geltenden gesetzlichen Anforderungen erfüllt, müssen die Behörden des Staates, in dem die Dienstleistung erbracht wird, davon ausgehen, dass dies eine ausreichende Garantie für seine Integrität ist.“

Im Übrigen beurteilte er die italienischen Bestimmungen als diskriminierend, so dass sie bereits alleine aus diesem Grund nicht anwendbar seien. Darüber hinaus seien die Bestimmungen auch nicht verhältnismäßig.

Als Schlussfazit kommt er zu dem Ergebnis:

„Aufgrund des Vorstehenden schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen, die vom Tribunale Teramo und vom Tribunale Larino vorgelegt worden sind, wie folgt zu beantworten:

Die Artikel 43 EG und 49 EG sind in dem Sinne auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die das Sammeln, die Annahme, die Registrierung und die Übermittlung von Wetten ohne die hierfür erforderliche Konzession oder Genehmigung des jeweiligen Mitgliedstaats für Rechnung eines Unternehmens, das eine solche Konzession oder Genehmigung für die Erbringung derartiger Dienstleistungen in dem betroffenen Mitgliedstaat nicht erlangen kann, aber eine in dem Mitgliedstaat seiner Niederlassung hierfür erteilte Zulassung besitzt, verbietet, indem es die genannten Tätigkeiten mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bedroht.“


Falls der EuGH dieser Argumentation folgen sollte, darf das grenzüberschreitende Angebot von Sportwetten von einem Mitgliedstaat (dort behördlich zugelassener Buchmacher) in einen anderen Mitgliedstaat (dort ansässige Vermittler und Wettkunden) nicht mehr strafrechtlich (und damit auch nicht mehr verwaltungsrechtlich) unterbunden werden.

aus: Sportwettenrecht aktuell Nr. 68

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